Archaische Damen

Die Vogelfrau und die Venus von Willendorf

Im Gegensatz zur noch im Halbschlaf ruhenden Venus von Willendorf, die mit ihrem hohen Alter von 29.500 Jahren als eine der allerersten Figurinen aus dem prähistorischen Dunkel auftaucht, kommt einem die Vogelfrau aufrecht und regelrecht wach entgegen. Sie liegt nicht rund quellend und in sich gekehrt, sondern strebt leichtfüßig in die Höhe, erhebt elegant und tänzerisch ihre Arme. Mit ihren etwas mehr als 5.000 Jahren ist sie relativ jung und gehört zu einer archäologischen Kultur des kupfersteinzeitlichen Ägypten der prädynastischen Zeit. Jene Periode – genannt Naqada II, ca. 3.650-3.300 v. Chr. – war eine der letzten schriftlosen Kulturen am Nil. Noch waren keine Pyramiden erbaut, keine Hieroglyphen entwickelt und noch kein Körper konservierender Mumienkult Mode.

Figuren dieses Stils sind selten, nur sechzehn Beispiele von Vogelfrauen verschiedener Größen wurden in Gräbern in El-Ma'mariya in Oberägypten dicht bei den Bestatteten gefunden. Die Interpretation dieser figürlichen Grabbeilagen ist nicht vollständig geklärt. Typisch für Figuren aus der Naqada-II-Periode ist der dreieckige Torso, der hier durch die nach oben gestreckten Armen und die hängenden Brüste leicht überformt wird. Die Figuren haben kleine Köpfe, einen langen Hals, der sich zu den Schultern hin verbreitert, längliche Brüste und eine anmutig geschwungene Taille.

Mit ihren erhobenen Armen bilden sie einen Kreis über und hinter sich und weisen so auf einen Bereich hinter Kopf, Nacken, Schulterblättern. Da, wo die eigenen Augen nicht hingelangen, dort wurzeln unsichtbar schimmernd Ansätze für Flügel – und noch ohne dezidierte Darstellung dieser betonen die prähistorischen Vogelfrauen mit ihrer Armhaltung jenen eigenartigen Punkt des Körpers.

Diesen Schulter-Nackenbereich benutzt ja auch heute die Seele gerne als Ausgangstor aus dem Körper, sei es in der Meditation, im Schlaf oder an den großen Übergängen von Leben und Tod. Wie interessant, dass damals im Gräberkontext kleine Terrakotta-Figurinen mit erhobenen Armen diesen Punkt umtanzend betonten...

Wie anders hingegen ist jener Nacken-Schulter-Bereich bei der Venus von Willendorf gestaltet: eingerundet entspannt, weich und dunkel unbewusst! Und ihre winzigen Händchen ruhen ebenfalls, liegen auf den fülligen Brüsten und beginnen erst ganz zart den Hals-Kopfbereich frei zu machen, in einen wacheren Zustand zu heben…

Doch der Kopf der Vogelfrau ist längst nicht mehr traumgeneigt wie bei der Venus von Willendorf, sondern wird auf langem Hals aufrecht getragen. Er ist schlicht gestaltet, die Silhouette des Gesichts weist eine schnabelartige Rundung auf, die ihr den „Spitznamen“ Vogelfrau eingebracht hat. Doch diese Bezeichnung kann eben auch weitreichender verstanden werden. Und relativ bald, historisch gesehen, erscheint im Alten Ägypten dieses Vogelmotiv im Sepulkralen in der Gestalt des Benu, des altägyptischen Totengottes. Als Purpurreiher kann er sich vogelgleich fliegend von der Erde lösen und als Zugvogel verschwindet er im Jahreslauf und erscheint später wieder. Auch wird Benu assoziiert mit dem Planeten Venus, der beidseitig der Nacht (sprich des Todes) als Abend- & Morgenstern rhythmisch verschwindet und erscheint und wieder verschwindet, bevor er wiederum wie neugeboren erstrahlt – ewig wechselnd … ein Interpretationszusammenhang in positiver Bedeutung.

Dies wandelt sich jedoch in der europäischen Geschichte: die Benu-Figur geht im Alten Griechenland in die Figur der vogelartigen Sirenen über – Sirenen, die so wunderbar zu singen vermögen, lieblich und verlockend und doch denen den Tod bringend, die ihrem Gezwitscher folgen. Trotz süßester (Vogel-Sirenen-)Gesänge überwiegt nun eine negative und lebensbedrohliche Bedeutung: diese (weiblichen) Wesen verderben das Leben – vor allem das der Seemänner, die die Sirenen auf ihren Schiffsfahrten erhören. Das Transzendente und Durchlässige des Überganges von Leben-Tod-Leben hat sich verflüchtigt. Der Tod ist zu einem fürchterlichen Totalende geworden, gnadenlos und gefräßig. Die Antike steigert diese Bedeutung und entwirft noch grausamere abscheuliche Vogelfrauen, die hässlichen Harpyien. Das Mittelalter driftet dann endgültig in das primitive Schreckensbild des bösen und unheilvollen Weibes und damit in die abergläubige Hexerei.

In allen Kulturen der Welt immer etwas von diesem geheimnisvollen Kern eines Vogelwesens, das ambivalent den Grenzbereich des Diesseitigen und des Jenseitigen bewohnt und gestaltet, je nachdem in positiver oder negativer Zeichnung.

Nicht zuletzt die schillernde Figur des Phönix (interessanterweise wieder in männlicher Ausführung) ist damit verknüpft, jener mythische Vogel, der im Feuer sich auslöscht, verbrennend verschwindet ... um doch später aus der kalten Asche wieder zu neuem Leben und strahlendem Glanze zu erstehen.

 

Meine Nachbildungen dieser eleganten und ausdrucksstarken Terrakotta-Figur basieren auf Bildern der Originalartefakte aus El Ma’mariya in Ägypten, und werden einzeln von Hand gefertigt, bemalt, poliert und bei niedrigen Temperaturen um die 750°Celsius gebrannt, den damaligen Techniken der Naquada-Kultur folgend. Jener Prozess des Durchganges durch natürliches Feuer führt häufig zu Farb- und Texturabweichungen der Oberfläche, wie sie auch bei den originalen Vogelfrau-Skulpturen zu finden sind und die ihnen ihren individuellen Schmuck verleihen.

Wie wunderbar ist es dann -- vor diesem ganzen Hintergrund -- am Morgen nach einer Rauchbrand-Feuernacht die Arme einer archaischen Vogeldame aus der graustaubigen Asche herausragen zu sehen, bevor diese Phönix-Vogeline dann ganz auftaucht und verwandelt wieder auf dieser Seite des Übergangs anzutreffen ist...


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