Die Sache mit der Asymmetrie

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Eine symmetrische Form muss man wohl innerlich sehr gut kennen, woher sollte sonst jenes beglückende Seh-Erlebnis herrühren, welches sich einstellt, erblickt man ein vollkommen symmetrisches Objekt in der Außenwelt – es mutet fast wie ein Déjà-vue an, und man genießt eine seltsam bekannte Harmonie. Doch schon die kleinste Asymmetrie springt einem dann zupackend ins Auge. Mit einer solchen Entdeckung hat die schöne reine harmonische Form plötzlich unschöne Fehler bekommen, und eine seufzende Irritation befällt das Gemüt. Die Unregelmäßigkeiten stören einfach.

Symmetrie-Abweichungen, also A-Symmetrien, scheinen die ideale Erscheinung zu verunglimpfen und ihre transzendentale Schönheit zu mindern. Doch dieser Blick ist einseitig, und er ist änderbar: dieser enge Winkel kann geweitet werden.

Statt also fehlerhafte Symmetrien als bedauerlichen Makel der Gestalt zu empfinden, könnten sie als interessante Individualisierung vermerkt werden. Das öffnet die Tür einer starren Hierarchie der „Gelungenheitsklassifizierung“ um einen ersten Spalt. Neben das abschließende Urteil („Schief!“) stellt sich ein hinwendendes Interesse („Wie das?“). Die Beobachtung wendet sich nicht ab, sondern bleibt fragend neugierig und bemerkt Eigenwilligkeiten: vielleicht eine Verschiebung der Symmetrie-Achsen, vielleicht eine Ungleichgewichtung der Seiten, vielleicht ein Verlassen der exakten Horizontalen oder Vertikalen etc... - all das gibt der idealen streng symmetrischen Form einen Schubs und Veränderung und Individualisierung beginnen. Im Betrachter entstehen Mit- oder auch Gegenbewegungen. Die stabile, ruhig ausgewogene Urform ist labil geworden. Sie muss sich neu austarieren in ihrer verlorenen Symmetrie, muss sich nun in einer Asymmetrie einrichten. Bleibt die entstandene Leichte, verstärkt sie sich gar?

Der Asymmetrien gibt es ja unendlich viele, das Umgehen mit ihnen ist zu lernen (jedes Kind übt sich schon darin) - ein überaus interessanter Prozess, der belebt, wach macht und Flexibilität erfordert. Denn gerade im austarierenden Spiel mit möglichen Abweichungen von der himmlisch-symmetrischen Edelform muss intensiv auf eine neue, nun asymmetrische Harmonie geachtet werden. Das Harmonie-Ziel bleibt bestehen. Trotz aller individuellen Formfreiheit suche ich in der “Schiefe” nach einer möglichst wohltuenden Ausgewogenheit und ich bitte die Form, möglichst weiterhin angenehme und reizvolle Empfindungen im Betrachter auszulösen. Verlorene Symmetrie soll mit der ausgleichend asymmetrischen Gestalt zusammenklingen und eine gestaltbildende Steigerung erfahren, anstatt als bekümmerlicher Makel erlebt zu werden. Ob dies gelingt, liegt auch am betrachtenden Gegenüber.

Das Erleben einer Schönheit in der Un-Symmetrie spiegelt sich auch in der menschlichen Fähigkeit zur Resilienz. Man fokussiert dann auf die Aktivität, die aufgebracht werden kann, um auch außerhalb der optimal-symmetrisch-idealen Seinsweise harmonisch zu bleiben und positiv mit der Welt verbunden zu sein. Und vielleicht liegt der besondere Gewinn dann gerade darin, es nicht trotz der Asymmetrien zu leisten, sondern wegen der Asymmetrien, da diese zu neuen und individuellen Harmonien in der Weltenmusik führen.

„Schönheit, jener Komplex reizvoller angenehmer Empfindungen, die Dinge auszustrahlen scheinen, durch die wir uns lebendiger, näher mit der Welt verbunden fühlen und die sooft mit einem zwingenden Gefühl von Wahrheit, Güte und Liebe einhergehen.“
Leonard Koren


 
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