Skulptur - Bewegung - Tanz
Welcher Art ist die Bewegung einer Skulptur? Können die Linien einer statischen Form zum Tanzen einladen?
Tanz ist Bewegung, durch einen Impuls entstanden, in den Raum strebend und irgendwo zum Ende kommend. Bewegung charakterisiert sich damit als lebendiges und verbindendes Element: Es wird von hier nach dort “getanzt” und auf dem Weg entsteht etwas.
Wo ist bei einem Gegenstand, bei einer betrachteten Skulptur solch ein Tanz erlebbar? Mit den Augen (den Händen) gleite ich die geformten Linien entlang und lausche dabei auf die eigenen Bewegungen, die entstehen. Welche Sinne werden da in Regsamkeit versetzt? Was an mir nimmt teil an der Gestalt, die mir gegenübertritt? Welches Angebot macht mir die Skulptur? Gehe ich darauf ein und lasse mich (mit-)bewegen?
Ich berätsel eine Bewegungslinie einer Skulptur:
- Wo kommt sie her? Kann ihr Ursprung gefunden, erahnt, ertastet werden?
- Hat ihre Bewegung eine Richtung oder ist sie unklar, suchend, unentschieden?
- Zögert sie, ist sie vorsichtig oder hat sie schon viel Kraft, Dynamik und ein erkennbares Ziel?
- Trägt sie Potential für weiteres Strömen und Drängen in sich oder ist sie mit ihrem Impuls an ein Ende gekommen?
Es ist überaus belebend, Formen auf solche Zustände hin zu befragen und diese dann zu bearbeiten, eventuell deutlicher zu konturieren.
Und weiter befragt der tastende Blick die Skulptur:
- Was geschieht mit den Bereichen um eine Bewegungslinie herum?
- Zeigen sich diese gänzlich unbeeindruckt oder halten sie aktiv dagegen, bzw. lassen sie sich auf eine Beeinflussung ein oder werden gar heftig in Mitleidenschaft gezogen?
- Ergibt sich eine gemeinsame Choreografie, eine zusammenhängende Form aus den sich gegenseitig impulsierenden Bewegungen?
- Welche Dynamik entwickelt sich, bleibt alles ruhig strömend und im Gleichgewicht oder wird es lebendiger und reicher, differenziert sich, polarisiert sich oder gerät gar aus dem Gleichgewicht? Wieweit kann eine Bewegung um sich greifen ohne “umzukippen” … ?
Und kann es vielleicht sogar sein, dass der aktive Bewegungsimpuls bisweilen nicht in der Form erlebt wird, sondern dass die Form selbst sich als passiv, also als rein von außen affiziert darstellt?
- Wie ist es, wenn die “unsichtbare Bewegung” gewissermaßen das Tonmaterial drückt, formt, durchbricht und so die “sichtbare Substanz” zu einer Umhüllungsform gestaltet wird?
Dann würde diese Gestalt also von äußeren Bewegungsimpulsen zeugen – im Gegensatz zu Formen, die von innewohnenden Bewegungsimpulsen geprägt sind. Kann solches gezeigt werden?
Meine Bewegungsstudien (Objekte) sind Kleinplastiken.
Capo Testa in Sardinien hingegen ist ein grandioses, Quadratkilometer großes Gelände voller riesiger bewegter Linien im Granit, Strömungsformen aus plutonischen Tiefen, vor Urzeiten erstarrt, an die Erdoberfläche gehoben und dort nun mediterranem Wind und Wetter ausgesetzt. Diese Prozesse werden als Tafoni-Verwitterung bezeichnet, doch die hohlraumbildenden Kräfte an jenem nordsardischen Ort gehen über das gewöhnlich “Bienenwabendartige” hinaus und sind außerdem verwirrend gigantisch groß. Geht man durch das Gelände und setzt sich den Gestalten dieser grobkörnigen Granitfelsen aus, so schwingt und turbulenzt es dauernd hinundher, verwirbelnd vorundzurück, sich erhebend und wieder zurückfallend, wellenartig, wie sichtbar gewordene Strömungen in viskosen Flüssigkeiten, unfassbar und unglaublich belebend.
Die Granitformen in Capo Testa bewegen unbeseelt, doch es gibt auch Bewegungsskulpturen, die eine seelische Tinguierung vermitteln, z.B. die begehbare Bronzeplastik “Grand Refuge” von Alicia Penalba im Skulpturenpark beim Zentrum Paul Klee in Bern: bewegte Formen, zu der sich nun eine Stimmung gesellt. Das hat Folgen: Herkunft wie Zielrichtung der Bewegung sind aus einem inneren, jetzt seelischen Antrieb heraus impulsiert und zeugen von einer anderen Qualität als das Strömen einer Meereswelle oder als organische Wachstumsbewegungen. Die Skulptur weist damit auf eine weitere Empfindungsmöglichkeit hin. In den lebendig nachfahrbaren Linien ist nun neu eine Emotion, eine Bewegung des Gemüts zu erleben. Mit welchen Sinnen nehme ich diese wahr, während meine Augen die Formen abtasten? Welch andersartige Begegnung mit der Skulptur findet nun statt … ?
Wie rätselvoll sind doch geformte Dinge!