Vom Kokon
Begegnet man einem Kokon, so hat man vor sich eine unbewegt stille Erscheinung von ovaler, konvexer Gestalt. Es ähnelt einem kleinen Vogelei oder einem geschliffenen Kieselsteinchen und ist meist von leichtem Gewicht. Man dreht und wendet es und freut sich an der ruhigen Form. Wenn dann ein Löchlein sich noch findet, ist man sicher: dies ist ein Kokon.
Das Lebewesen, welches ihn einmal bewohnte, ist fort und ließ diesen Kokon zurück. Er ist wohl nicht mehr nötig und aus dem Lebensprozess entlassen. Aber er war mit Sicherheit einmal nötig als Hilfe, um sich den Umgebungseinflüssen soweit wie möglich entziehen zu können.
Interessanterweise war das Lebewesen selbst fähig diesen Schutz zu bilden, um jene Phase der Unsichtbarkeit zu überbrücken, ohne gleich in die vollständige Unsichtbarkeit hinein sterben zu müssen. Dem Licht und den Blicken verborgen lebte es geschützt hinter den Kokonwänden weiter, äußerlich scheintodesstarr wie ein Kieselsteinchen, doch innerlich mit gewaltigen Umwandlungsprozessen beschäftigt. Es vollzog einen Entwicklungsvorgang, der wohl nur erfolgen kann, wenn er unsichtbar bleibt. Öffnete man den Kokon, um neugierig daran teilzuhaben, so würde man nicht nur den Kokon zerreissen, sondern gleichzeitig das ganze Lebewesen zerstören. Sie gehören in dieser Zeit untrennbar zusammen.
Erst wenn die Verwandlung soweit fortgeschritten ist, dass das Lebewesen wieder in Erscheinung treten, sprich “neugeboren” werden kann, ist der Kokon als Körperteil nicht mehr lebensnotwendig und wird losgelassen. Findet man einen solch verlassenen Kokon, so durchschauert es einen, denn: hat man nicht vor sich den gestorbenen Teil eines Neugeborenen?
Und weiter fragt es einen: Ist jenes Lebewesen, das seinen Kokon nun verließ, immer noch das gleiche, welches ihn erbaute? Wie gleicht das, was sich dazumal den Impuls zum Rückzug aus der Welt gab, wie gleicht das jenem anderen, was sich später den Impuls zu Ausbruch und Neugeburt gab…
Kokon — einst unverzichtbares Gefäß während verborgener Metamorphose glüht er nach dem Verwandlungsfeuerbrand aus, wird zurückgelassene Schlacke. Welch Erlebnis, dem nachzuspüren!
Der Kokon also als Bild für Entwicklung: als Schutzhaut gebaut, gibt er Sicherheit und wird verlassen eines schönen Tags, wenn zu eng er wird — dies Bild, einmal gefunden, ist überall zuentdecken und betont die Wichtigkeit, das sog. Puppenstadium zu verstehen (als Puppe wird bei den Insekten das sich in seinem Kokon wandelnde Tier bezeichnet), es nicht zu stören und geduldig zu warten, bis das versteckte Lebewesen selbst in sich den Impuls zum Schlüpfen bemerkt und den Kokon verlassen will und verlassen muss und verlassen kann, ins neue Freie hinein…
"Ins Freie" (2023)
Installation für die Frauenberatungsstelle Lörrach als Beitrag anlässlich der Ausstellung zur Einweihung der neuen Räumlichkeiten:
Rauchbrandkeramik (drei Kokons)
Schafwolle schwarz
Puppenwagen
Gedicht