Uhren befragen die Zeit
Ignorier nicht die Gegenwart,
krustig verbrannte Erde
wie altes Leder gekerbt,
wenn deine Blicke kreisen und suchend sind am Horizont –
rechts entlang im Zeigerweiß des unbeschriebenen Morgens
links herum die Vergangenheitsnacht nostalgisch angoldend –
denn dauernd stirbt das Jetzt
zeitvermessen.
Im vernarbten Braun
klein ein
Austernfischer
im Flug der Zeigerzeit und
im schwarzweißen Kleid auch er, doch
Schnabel rot
und Krallen rot
und rot der Rand ums Vogelaug'.
Ignorier's nicht!
Gegenwart,
du schwarze Schwinge der Zeit mahlend überm Erdendunkel –
denn es könnt ja sein,
das Rot spuckt Wirklichkeit
in deinen Augenblick.
Dies Gedicht ist der verbale Teil der Installation „Der Austernfischer und die Gegenwart“ – vom 5.10.-5.11.2023 mit neununddreissig anderen Uhrkreationen zum Thema ZEIT im Foyer des Burghofs Lörrach ausgestellt – ein Kooperations-Kunstprojekt des Vereins Bildende Kunst Lörrach e.V. und der Burghof Lörrach GmbH mit dem Titel “Kunst tickt anders”.
ZEIT? …unbeschriebener Morgen…Jetzt…Vergangenheitsnacht…Augenblick…Gegenwart?
“Was ginge uns beim Reden vertrauter und geläufiger vom Munde als Zeit? Beim Aussprechen des Wortes verstehen wir auch, was es meint, und verstehen es gleichso, wenn wir es einen andern aussprechen hören. Was also ist Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht. Das jedoch kann ich zuversichtlich sagen: Ich weiß, daß es keine vergangene Zeit gäbe, wenn nichts vorüberginge, keine zukünftige Zeit, wenn nichts da wäre.” So versucht Augustinus schon vor 1600 Jahren sich dem Phänomen der Zeit zu nähern.
ZEIT? Gegenstandslos ist sie, schwer zu greifen, überaus flüchtig bisweilen und dann wieder zäh verharrend, im Erleben meist dem persönlichen Empfinden zugewandt, offensichtlich subjektiv … also wird alsbald versucht, die objektiven Aspekte der Zeit zu finden, sie mit Messinstrumenten zu bändigen und allgemeingültig zu machen, bzw. ihrer zumindest an einem Zipfel habhaft zu werden.
Lange schon sind Sonnenuhren mit ihrem Schatten werfenden Zeiger bekannt, als vor ca. 700 Jahren an den Kirchentürmen die ersten mechanischen Räderuhren erscheinen, nun mit runden Ziffernblättern und einem kreisenden Stundenzeiger. Solche Stundenmessapparate sind vielfach künstlerisch geschmückt, bebildert oder mit Mahnworten versehen, um die zahllosen anderen Aspekte zu veranschaulichen, die wichtig sich um den Zeitbegriff ranken, denn:
Kunst kann Zeit vermitteln, ohne sie zu erkären.
Kunst schafft Bilder, die Empfindungen zur Zeit hervorlocken.
Kunst arbeitet an individuellen Sichtweisen und Auffassungen und Assoziationen zur Zeit.
Von dieser großen Vielfalt kündet auch die besagte Uhren-Ausstellung im Lörracher Burghof.
“Jene beiden Zeiten also, Vergangenheit und Zukunft, wie kann man sagen, daß sie sind, wenn die Vergangenheit schon nicht mehr ist und die Zukunft noch nicht ist? Wenn dagegen die Gegenwart immer gegenwärtig wäre und nicht in die Vergangenheit übergänge, so wäre sie nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit.” So befragt sich Augustinus weiter und scheint verwirrt seinen Kopf zu schütteln: Zeit könne nicht da sein, sprich nicht existieren, weil sie entweder vergangen oder noch nicht angekommen sei. Und wenn Zeit doch da sei, nämlich in der Gegenwart, so sei sie ohne Veränderung präsent und wäre dann wie dauerpräsente Ewigkeit…??
Wie geht dies zusammen mit dem bekannt ordendlichen Bild der Zeit als das eines Zeitpfeiles, der klar und schlicht von von gestern nach morgen fliegt, unumkehrbar und unbeeinflussbar? Und ist es nicht so, daß die Zeitlichkeit das Irdisch-Diesseitige bestimmt, wo hingegen die Ewigkeit kurzerhand ins Jenseits-Himmlische verbannt ist?
Doch Zeit ist beweglich und ungleichmäßig, sehr variabel, wohnt jeweils den Dingen als Eigenzeit inne, ergreift diese und tritt überhaupt erst an ihnen in Erscheinung, und dazu noch in je unterschiedlicher Gestalt.
Und Zeit ist relativ. Nicht nur in den modernen Naturwissenschaften mit Relativitätstheorie und Quantenmechanik wird die Zeit ihrem Pfeildasein enthoben und neben dem Raum als eine vierte Dimension charakterisiert, um die zwei gemeinhin als unabhängig erlebten Größen Raum und Zeit als nun zusammenhängend und sich gegenseitig beeinflussend zu beschreiben. Auch die Geisteswissenschaften fokussieren schon seit je auf dem Aspekt der verschränkten Zeiten. Mystik bis Moderne umkreisen mit Hochgenuss das Rätsel der Zeit: Vergangenheit ist nicht abgeschlossen, Zukunft nicht unerreichbar, Gegenwart transzendent…
T.S.Eliot: “Time present and time past are both perhaps present in time future, and time future contained in time past. If all time is eternally present, all time is unredeemable.”
Oder das Bild einer zyklischen Zeit (im Gegensatz zum Zeitpfeil), die das Immerwiederkehrende in den Blick nimmt, wie z.B. den Jahres- oder Generationen-Zeitlauf, wenn Werden und Vergehen gleichzeitig präsent sind, eine sich in den Schwanz beißende Weltenschlange…
Oder Andreas Gryphius, der im Augenblick etwas von der Ewigkeit erwischt: “Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen. Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen. Der Augenblick ist mein, und nehm' ich den in Acht, so ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.”
Oder den Hinweis, den Marcel Proust gibt: “Das Kunstwerk ist das einzige Mittel, die verlorene Zeit wiederzufinden.” Hups, hatte die Zeit sich versteckt? Und ist sie beim wieder sichtbar werden möglicherweise verändert? Vielleicht wie bei Ingeborg Bachmann: “Die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont…”?
Ja, “noch liegen die Schatten der Zeit wie Fragen über unserem Geheimnis…” (Nelly Sachs) und alles bleibt offen, interessant und befragungswürdig, lauter belebende Rätsel um das Phänomen der Zeit – auch wenn ewiglich der erhobene Zeigefinger des Mittelalters mit den Stundenzeigern von den Kirchturmuhren mahnt:Vulnerant omnes ultima necat (Alle verwunden, die letzte tötet).